Der Hauptplatz

Hier finden wichtige Ereignisse und vor allem die Ernte statt.

Zeal war froh sitzen zu können. Er war nämlich noch immer etwas wackelig auf den Beinen.
Nach dem er gegen zwölf Uhr Mittag erwacht war, hatte seine Mutter ihm erklärt, das sie seien Schwester und ihre Familie aus dem Haus geworfen hatte. Und das sie seine Morfixvorräte durch eine Lösung mit Kochsalz ausgetauscht hatte in der Hoffnung ihn so langsam zu entwöhnen. Unter normalen Umständen hätte Zeal sicher geschrien, doch mit dem vielen Morfix im Körper hatte er sich einfach nicht aufregen können.
Seine Mutter hatte seine Sachen allein gepackt. Um halb eins hatte es dann an der Tür geklopft und die beiden anderen Siegerinnen von Distrikt 6 hatten vor der Tür gestanden. Edwyna Brown und Tessa McDonald. Edwynas Mann hatte Zeal und die beiden Frauen und seine Mutter zum Hauptplatz gefahren, damit sie nicht mit der Distriktbahn zu fahren brauchten.
Edwyna hatte Tessa und Zeal auf die Bühne geholfen. Obwohl sie jünger als Tessa war, war sie im Prinzip die Siegermama von Distrikt 6. Sie war die einzige Siegerin des Distrikts, die noch nie Morfix genommen hatte. Selbst der alte Calbo Olidan war in den Monaten vor seinem Tod dem Schmerzmittel verfallen. Edwyna jedoch war stark geblieben und kümmerte sich sehr um Tessa und ging auch Zeals Mutter dann und wann zur Hand.
Sie führte die beiden Morfixer zu ihren Stühlen und setzte sich auf den zwischen ihnen.
Sie beugte sich zu Zeal hinüber. „Ich muss sagen, mein Junge“, sagte sie, „ich bin alles andere als zufrieden damit, dass ihr beiden allein als Mentoren ins Kapitol müsst. Aber mich fragt ja keiner.“
Zeal sagte nichts, sondern starrte ins Leere. Auf dem Platz tummelten sich die möglichen Tribute. Viele hatten sich in mehrere Schichten Kleidung gewickelt, um sich vor dem Nieselregen zu schützen.
„Aber ich glaube, ihr bekommt das trotzdem hin, oder nicht?“, fragte Edwyna und tätschelte Zeals Oberschenkel.
Zeal konnte nur etwas grunzen, was Edwyna wohl als Zustimmung aufnahm.
„Ach ich bin mir ganz sicher, mein Junge. Ihr seid ein absolutes Dreamteam.“ Sie strich Zeal über die Wange.
Zeal brummte. Seine Hände, die inzwischen schon fast verheilt und bandagenfrei waren, hatte er in seinem Schoß verschlungen.
In diesem Moment trat der Bürgermeister auf die Bühne und die Ernte begann.

Als Utlind, die aus dem Kapitol gesandte Betreuerin für Distrikt 6, den Namen „Viviene Paine“ vorlas war Zeal in erster Linie erleichtert, das er ihn nicht kannte. Er richtete sich leicht auf und lies den Blick über die Reihen der Mädchen schweifen.
Hoffentlich nicht jünger als vierzehn, dachte er. Und bloß keine Zwölfjährige. Die waren sowieso die Schlimmsten. Bei der allerersten Ernte gezogen zu werden musste grässlich sein.
„Dort“, sagte Edwyna neben ihm und nickte hinüber zu dem Bereich, in dem die Fünfzehnjährigen Mädchen standen. Dort war es besonders unruhig.
Zeal reckte sich noch etwas und sah dort hin, zu dem Mädchen, das von den anderen angestarrt wurde. Wie alle Gezogenen in jedem Jahr angestarrt wurden. Voller Grauen. Denn ein jeder dachte: Das hätte auch ich sein können.

Eine Fünfzehnjährige, deren Haar durch den Nieselregen triefend nass war, schob sich aus der Menge. Ihr Gesicht war starr und sie kam wie in Trance zur Bühne.
Utlind begrüßte sie begeistert.
Das Mädchen ... Sie sah eigentlich ganz anders aus, kein bisschen wie ... Dennoch. Da war etwas in ihrem Gesicht, ihren Augen, die die falsche Farbe hatte, in ihrem Auftreten. Etwas, das Zeal an Melody erinnerte.
In der Menge auf der anderen Seite des Platzes gab es ein Gerangel und jemand schrie den Namen des Mädchens. Es war wohl der Vater, der sich da mit einer Friedenswächterin zu prügeln drohte.
Utlind schien davon keine Notiz zunehmen. „Wunderbar!“, tröte sie nur. „Und jetzt zu dem Jungelchen.“ Sie hatte die grässliche Angewohnheit, alles verniedlichen zu müssen. Da war Zeal ihre Vorgängerin Arabella lieber gewesen, die damals bei ihm Betreuerin gewesen war. Auch wenn die dumm gewesen war, wie ein Truthuhn und sich permanent in Lebensgefahr befunden hatte, weil sie in ihren mörderisch hohen Schuhen nicht laufen konnte.
Utlind hingegen sprang nun wie ein junges Reh in Pumps über die regennasse Bühne zur Jungenkugel und fischte ein „hübsches kleines Zettelchen“ heraus.
Am Mikrophon kreischte sie den Namen „Ashton Rightwood“ über den Platz.
Es ist ein Zwölfjähriger Junge, der da über den Platz getrottet kommt. Mir dreht sich der Magen um. Nein. Ich kann keinen Zwölfjährigen Jungen kriegen! Das würde ich nicht aushalten!
Und egoistisch, wie ich bin, sage ich schnell in Tessas Richtung, so das es außer ihr und Edwyna keiner hört: „Ich nehme das Mädchen.“
Edwyna zieht die Brauen hoch und sagt nichts. Tessa sieht mich aus übergroßen Augen an und grunzt etwas, das ich als Zustimmung auffasse.
Der kleine Junge kommt die Treppe zur Bühne hoch und muss sich anhören, wie überaus reizend und niedlich ihn Utlind doch findet. Dann fragt sie nach Freiwilligen. Und natürlich gibt es die nicht.
„Also gut! Ich präsentiere ihnen die Tribute für Distrikt 6: Viviene Paine und Ashton Rightwood. Die aller fröhlich-tollsten Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!“
Dann kommen Friedenswächter auf die Bühne und führen die beiden Tribute ins Justizgebäude, wo sie sich von ihren Familien verabschieden werden.
Auch Zeal wollte seiner Mutter noch Auf Wiedersehen sagen. Sie würde auch zum Justizgebäude kommen.
Auf der Bühne war schon einiges los. Die Leute auf dem Platz liefen auseinander, man packte die Kugeln mit den Namen weg und der Bürgermeister plauderte mit Utlind.
Zeal und seine beiden Mitsiegerinnen standen auf.
„Also dann, rein mit euch ins Vergnügen“, sagte Edwyna und bugsierte Zeal und Tessa ebenfalls ins Justizgebäude.