Im Zug

Das Abteil für Distrikt 9.

Hope betrachtete sich eine Weile im Spiegel und prüfte ihren neutralen Gesichtsausdruck. Ein distanziertes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie war recht zufrieden mit sich. Soweit man das denn überhaupt so bezeichnen konnte. Am liebsten würde sie sich einfach in einer Ecke verkriechen und die Augen schließen, um nicht den Tod von 23 unschuldigen Kindern mit ansehen zu müssen. Zwei davon musste sie die nächsten Tage betreuen und trainieren, was das Zeug hält. Es war zwar äußerst unwahrscheinlich, dass ihr Distrikt gewann, aber sie wollte zumindest das Ansehen steigern. Sie erinnerte sich noch gut an das Gespräch mit Seneca Crane, dass viele Leute schlecht über Distrikt 9 sprechen. Und das würde sie nicht auf sich sitzen lassen.  Wenn sie etwas gar nicht mochte, dann waren es solche dämlichen Leute, die einfach nur dummes Geschwätz von sich gaben. Typische Kapitol-Fanatiker... Aber genug dieser trüben Gedanken! Sie hatte sich jetzt wie eine Mentorin zu verhalten. Sie war schließlich eine Siegerin!
Entschlossen straffte sie die Schultern und strich ihr honiggelbes Kleid glatt. Der weiche Stoff des Saumes umspielte ihre Waden und gab ihr ein Gefühl von Leichtigkeit. Die flachen, gleichfarbigen Lederschuhe unterstützten dieses Gefühl noch und sie war froh, dass sie so gut mit ihrer Stylistin klar kam und sie ihr die hohen Stöckelschuhe wieder ausreden konnte. Es war ja nicht so, dass sie solche nicht mochte, aber darauf laufen zu können und dabei auch noch selbstsicher auszusehen war eine ganz andere Sache.
Fröhlich wie immer spazierte sie die Gänge des Zuges entlang und betrat den Speisewagen. Ihr Kollege war bereits da und in ein intensives Gespräch mit den beiden Tributen vertieft. "Hallo", rief sie gut gelaunt in den Raum hinein und setzte sich dem anderen Mentor schräg gegenüber. Sie wollte ihn nicht weiter stören und griff sich stattdessen ein rundes Küchlein, in das sie lustlos hinein biss. Irgendwie war ihre Kehle auf einmal viel zu trocken, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie musterte ihre Tribute. Das Mädchen war viel zu niedlich, um sie sich als Kämpferin vorzustellen. Und der Junge? Allzu stark sah er leider auch nicht auch. Ohje, das konnte ja heiter werden. Sie musste die beiden gut durchbringen. Wenigstens für ein paar Tage, um zu zeigen, dass ihr Distrikt nicht so leicht unterzukriegen war. Das Blutbad am Anfang war immer am schrecklichsten. Sie würde zumindest ihrer Tributin einbläuen, dass sie sich keineswegs zum Füllhorn bewegen sollte. Weg rennen. Irgendwo verstecken, möglichst in einen Wald, wenn es einen gibt. Auf Bäume klettern oder hinter Büsche. Sich eine Waffe selber bauen, Fallen zur Nahrungsbeschaffung bauen. Leider war das Füllhorn ein höchst verlockendes Angebot, Rucksäcke mit Essen und Trinken, Waffen, Seile, Streichhölzer... Aber um zu überleben, durfte das Mädchen es erst gar nicht versuchen, so schwer es auch sein möge. Hope hoffte aus ganzem Herzen, dass die Tributin so klug war, ihren Rat zu befolgen.
Seltsame Blicke ruhten auf ihr und die Siegerin riss sich unsanft aus ihren Gedanken. "Ähm", machte sie verlegen, denn offenbar hatte ihr Kollege gerade das Wort an sie gerichtet. Dieser schmunzelte amüsiert und wiederholte seine Frage, was dieses Jahr ihre Taktik für die Tribute wäre.
"Defensive", gab sie in geschäftlichem Ton zurück und wandte sich direkt an die Tribute. "Lasst euch nicht von all den Dingen am Füllhorn in Versuchung bringen, verschwindet in einem Wald oder ähnlichem. Greift nicht direkt an, geht dem Blutbad aus dem Weg. Das Gemetzel fordert jedes Jahr eine Vielzahl von Opfern, sobald die Spiele beginnen. Versteckt euch und verschafft euch Nahrung, ihr werdet lernen, Fallen zu bauen. Legt euch nicht mit den Karrieros an. Die sind aus 1, 2 und 4. Gegen die habt ihr so gut wie keine Chance. Vertraut auf das Wissen, was ihr euch in den nächsten Tagen während des Trainings aneignen werdet. Legt besonderen Wert auf die Suche nach Wasser. Sucht euch Verbündete, zusammen habt ihr größere Chancen." Hope lächelte sie aufmunternd an. "Ich sehe großes Potenzial in euch." Okay, das war eine kleine Notlüge, aber sie musste diese Kinder motivieren, sie stolz machen, aus Distrikt 9 zu sein!