Im Zug

Clove hatte sich auf ihr Zimmer zurück gezogen, um einen Moment Ruhe für sich zu haben. Ihr Kopf schien sich unablässig zu drehen und ein kleiner Schwindelanfall überkam sie aus unbekannten Gründen. Sie ließ sich auf das weiche Bett sinken, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Was war denn nur los mit ihr? In ihrem Inneren kannte sie die Antwort, aber sie wollte sich diese Schwäche nicht eingestehen, sich nicht diese Blöße geben. Reichte ihre Liebe zu ihrer Schwester so weit, dass sie alles dafür tun würde, dass Cato zurück kehrte? Dadurch jedenfalls konnte sie Chleo ein wunderbares Leben ermöglichen, mit einem tollen Mann an ihrer Seite. Was wollte man mehr? Aber da war auch Cloves Siegeswille. Es ging ihr viel weniger ums Überleben, damit hatte sie noch nie so stark gehadert wie Chleopatra. Aber sie wollte sich nicht einfach kampflos töten lassen. Niemals! Nicht einmal für Chleo, so weit reichte ihre Geschwisterliebe dann doch nicht. Die konnte doch froh sein, dass sie überhaupt einen der beiden wieder bekam. Entschlossen schüttelte Clove den Kopf, um endlich mit diesen albernen Kindergedanken Schluss zu machen und stand so schnell auf, dass grelle Funken vor ihren Augen tanzten, sodass sie beinahe wieder nach hinten gefallen wäre. Aber sie riss zusammen und beachtete stattdessen zum ersten Mal die Kleidungsstücke neben sich, die sie bis dahin ignoriert hatte.
Das erste war ein rund ausgeschnittenes Top, welches ihr beinahe zu gewagt erschien, aber als sie es anprobierte, schien es doch gar nicht mehr so weit ausgeschnitten zu sein. Es war in einem dunkelroten Ton gehalten, ihrer Lieblingsfarbe und ging zum unteren Saum hin in schwarz über, welches sich perfekt an die eng anliegende Hose anpasste. Woher bitte hatte man ihre genauen Körpermaße genommen? Eine Frage, mit der sie sich vielleicht später beschäftigen wollte. Je nach Lust und Laune.
Clove blieb kurz unschlüssig in dem ihr zugeteilten Raum stehen und blickte sich nachdenklich um. Sie beschloss, entweder ihre Mentorin oder ihren Mittribut ausfindig zu machen, um ein wenig Gesellschaft zu haben.

Clove trat auf den Gang hinaus und blickte in beide Richtungen, bevor sie sich entschied, ihrem Bauchgefühl zu folgen und nach links abbog. Eigentlich arbeitete sie lieber mit Logik und Verstand, aber sie fand kein Schild auf dem geschrieben stand: hier entlang zu den anderen Passagieren. Also irrte sie jetzt einfach mal durch den Zug, sie würde schon auf irgendjemanden stoßen. Hoffentlich begegnete sie nicht als erstes Cato, sie wusste nicht, wie sie auf ihn reagieren sollte. Klar würden sie sich in den kommenden Stunden und Tagen sehen und vermutlich auch zusammen trainieren, aber es war doch total seltsam. Nicht nur, dass sie beide zusammen in die Spiele zogen und Chleo einen verlieren würde, da war auch noch dieses gewisse Geschehen... Nicht, dass Clove es bereute, nur befürchtete sie, Chleo würde ihr vielleicht den Kopf abreißen, würde sie davon erfahren. Aber eigentlich, was kümmerte es sie. Soweit sie wusste, waren die beiden nicht zusammen und wenn doch, tja, Pech gehabt. Außerdem gehörten immer zwei Seiten hinzu und hatte Cato zu nichts gezwungen. Dazu wäre sie wahrscheinlich sowieso nicht fähig gewesen. Sie ist zwar mindestens genauso stur und zielstrebig wie er, körperlich ist Clove dem jungen Mann aber unterlegen. Dafür hat sie andere Fähigkeiten, die sie in den nächsten Tagen zur Schau stellen musste.
Als sie das Geräusch von Schritten vernahm, wirbelte sie herum und tastete mit der Hand an ihr Hosenbund. Kein Gürtel? Kein Messer? Richtig, sie war ja nicht zu Hause, wo sie eigentlich ständig eine kleine Klinge mit sich herum trug. Ohne ihr geliebtes Messer fühlte sie sich auf einmal bloßgestellt, auch wenn ihr hier im Zug nichts passieren konnte. Was war eigentlich, wenn man den anderen Tribut bereits vor dem Einzug in die Arena umbrachte? Dazu gäbe es durchaus Gelegenheiten. Ebenfalls eine Sache, mit der sie sich zu gegebenem Anlass noch ausführlicher beschäftigen konnte. Denn die Schritte stammten von genau der Person, die sie auch gesucht hatte. Erleichtert ließ sie ihre Hand wieder sinken und hoffte, dass Enobaria ihre Reaktion nicht gesehen hatte.
"Hallo, Mrs. Sparks", grüßte sie höflich, jedoch ohne eine Miene zu ziehen.

Was bitte ging es diese Frau denn an, wen sie erwartete? Selbst wenn es eine konkrete Antwort gegeben hätte, bekäme die Siegerin sie nicht. Vielleicht würden sie deswegen noch so einige Male aneinander geraten, weil sie beide ziemlich biestig sein konnten. Umso besser für das Training.
"Niemanden bestimmten", lautete deshalb Cloves Antwort. "Ich bin von Natur aus misstrauisch und wachsam." Reichte das jetzt? Es war sogar die Wahrheit. Dass Enobaria Sparks sie mit ihrem Nachnamen angesprochen und gesiezt hatte, fiel Clove erst jetzt auf. Sollte sie das als Schmeichelei aufnehmen? Aber es galt wohl der reinen Höflichkeit.
Jetzt wechselte diese Frau auf einmal ins Du. Aus der sollte mal einer schlau werden! Nun, wahrscheinlich Brutus, aber der kannte sie schließlich auch jahrelang. Und das Lächeln? Am liebsten hätte Clove ein abschätziges Lachen von sich gegeben, aber es konnte doch auch an ihrer Laune liegen, dass sie schon wieder so zickig drauf war. Vielleicht wollte Enobaria wirklich nur nett sein. Allerdings waren Menschen das selten, wie sie in ihrem Leben feststellen musste. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte.
"Gut, Enobaria", nickte Clove und überging die Frage nach Cato einfach. "Kurz und schmerzlos", fügte sie mit einem Grinsen hinzu und besann sich anschließend doch noch, auf ihre Frage zu antworten: "Ich habe gehofft, dich zu finden und mich einfach nur gefragt, wie ich auf Cato reagieren würde." Sie biss sich unbemerkt auf die Unterlippe, um sich zum schweigen zu bringen. Ihre Freundschaft war sowieso vorbei, also musste ENobaria auch erst gar nichts davon mitkriegen. Das war schließlich ihr eigenes Leben!

Clove schüttelte energisch den Kopf und verkündete: "Cato wird kein Sterbenswörtchen von mir zu hören bekommen. Allerdings", räumte sie ein und fragte sich, ob das nächste jetzt schräg klang: "will ich, dass er und ich beide im Finale stehen. Persönliche Gründe." Ein Glitzern lag in ihren Augen, als würde sie am liebsten jetzt schon dort in der Arena stehen, ihrem neuen Feind gegenüber. Man konnte das ja auch so interpretieren, dass sie diesen Triumph genießen wollte, den besten männlichen Kämpfer dieser Spiele besiegt zu haben. Teilweise mochte das sogar zutreffen, aber das war definitiv nicht der Hauptgrund. Darüber musste sie noch mit Cato sprechen, aber sie war sich sicher, dass er ihr darin zustimmen würde. So würde außerdem die Gewissheit bestehen, dass Chleo einen von ihnen zurück bekommen würde. Es wäre jammerschade, wenn keiner gewinnen würde. Eine Schande wäre das, allein schon des Distriktes wegen.
"Gut, lass uns irgendwo hingehen, der Gang ist ungemütlich." Und nach einem leisen Magenknurren fügte sie hinzu: "Vielleicht können wir erst etwas essen, Hunger macht böse und ich will mich doch benehmen." Nun, allzu ehrlich klang das mit dem Benehmen jetzt nicht, aber Clove war auch nicht der Typ, der mit jedermann befreundet war. So spielte das Leben nun mal nicht.

Clove bemerkte den sichtlich unzufriedenen Ausdruck auf Enobaris Gesicht und fragte sich, was sie denn so missfallend gestimmt hatte. War es etwa deswegen, dass sie zusammen mit Cato im Finale stehen wollte? Oh, wenn diese Frau nur ihre Gründe wüsste, würde sie sie sicherlich verstehen. Aber die konnte se unter keinen Umständen preisgeben! Es war nicht nur, dass es die Siegerin nichts anging, die Spielemacher könnten daraus ebenso einen Vorteil erzielen und die ganze Sache noch interessanter gestalten. Besser, sie bewahrte Stillschweigen.
Jetzt ebenso, da Enobaria offenbar ihren eigenen Gedanken nachging und Clove wollte sie nicht unnötig stören. Sie kannte es nur zu gut, beim Nachdenken unterbrochen zu werden. Und wie hieß es so schön: was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Aber nein, dieser Spruch passte anstonsten rein gar nicht Clove. Sie liebte es, andere zu quälen und durch ihre Macht das Leid derer zu spüren, die sich mit ihr anlegten. Nur selten kam es vor, dass ihr jemand ebenbürtig war.
Gut, dass ihre Mentorin den Weg voran ging, Clove wäre wahrscheinlich in sämtliche Abteile geplatzt, bevor sie den Speisewagen gefunden hätte. Es gefiel ihr zwar gar nicht, von jemandem gesagt zu bekommen, wo es lang ging, aber es wäre unvernünftig gewesen, sich jetzt zu sträuben. Außerdem war Enobaria da, um aus ihr eine Siegerin zu machen, also hatte sie ihr gefälligst zu gehorchen. Zumindest soweit, wie es ihr passte. Also folgte sie der Frau den Gang entlang, ohne noch etwas zu sagen. Mit Kaffeeklatsch war sie bei ihr an der falschen Adresse. Die meisten ihrer Worte hatte sie heute Morgen schon für Cato aufgebracht.
Als sie hinter Enobaria in das Essens-Abteil kam, fiel ihr Blick sofort auf den jungen Mann, der dort saß. Ihr Blick war kalt, doch ihr Lächeln beinahe so umwerfend wie das von Ceasar, als sie ihn ebenso mit einem Nicken und einem knappen "Cato" grüßte. Sollte er sich doch aussuchen, ob er lieber ihren Augen oder ihren Lippen Glauben schenken sollte.
Clove setzte sich ihm schräg gegenüber und tat sich etwas von dem Essen auf den Teller, ohne ihn noch groß zu beachten. Trotzdem war sie versucht, ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln aus zu beobachten, wie er seinerseits auf sie reagierte.

Clove unterdrückte nur mit Mühe ein abfälliges Schnauben. Sie nahm Cato seine Höflichkeit nicht ab. Und dass er sie ebenso kalt begrüßte, wie sie ihn, sollte sie eigentlich nicht kümmern, aber jetzt erst realisierte die sie Umstände wirklich und ein kalter Schauder lief über ihren Rücken. Nun war es besiegelt: Cato war ihr Feind. Eigentlich jammerschade, da sie sich gerade so gut verstanden hatten. Naja, um genau zu sein, hatten sie nur ein Gespräch geführt, in dem sie sich bemühten, sich nicht zu streiten. Und was dann folgte war eben auch nur eine rein körperliche Sache gewesen. Trotzdem würde sie seine Freundschaft irgendwie vermissen. Aber das behielt sie schön für sich.
Überrascht blickte Clove auf, als er so abschätzig über Brutus sprach. Schon wollte sie ihn zurecht weisen, aufzupassen, über wen er da sprach, aber Enobaria war dabei und sie wollte lieber nichts riskieren. Außerdem wollte sie noch etwas von Cato: ihn als Verbündeten in der Arena. Bis zum Finale. Darüber musste sie noch dringend und so bald wie möglich mit ihm sprechen. Hoffentlich würde er ihr überhaupt zuhören.
Dafür, dass Enobaria so ruhig blieb, bewunderte sie diese Frau. Von ihr könnte sie echt noch etwas lernen, denn sie selbst hätte schon wieder irgendeine sarkastische Antwort darauf gegeben.
"Sei doch nicht so ungeduldig, Cato", stichelte sie und hatte sich jetzt doch zu einer Bemerkung hinreißen lassen. "In der Ruhe liegt die Kraft, heißt es doch." Sie kicherte leise und biss in das würzige Fleisch hinein, es war genau richtig, gut durch, aber nicht zu sehr.

"Okay", antwortete sie mit einem höflichen Nicken und folgt ihrem Blick zu dem jungen Mann.
"Cato!", schrie Clove wütend dazwischen und stand ruckartig auf. "Du weißt sehr wohl, dass ich nicht schwach bin. Wenn du schon so dreist bist, Enobaria zu beleidigen, lasse mich da bitte raus. Ich hab dir nicht im Geringsten etwas getan. Du weißt genauso gut wie ich, dass ich das hier alles nicht wollte. Dass..." Erschrocken hielt sie sich die Hände vor den Mund und starrt ihn finster an. Dass unsere Freundschaft wegen diesem Ereignis in die Brüche geht. Dass wir zu Feinden wurden und Chleo da mit rein gezogen wird. Dass sie einen von uns hassen wird. Und nur einen wieder bekommt."Man hat Distrikt 2 Selbstbeherrschung, Anstand und Höflichkeit beigebracht, Cato", zischtt sie, als ob nichts gewesen wäre. Selbstbeherrschung.
Beeindruckt beobachtete sie das Schauspiel, das sich ihr soeben bot. Jetzt fehlte nur noch eine Tüte Popcorn. Obwohl, Essen gab es genügend auf dem Tisch, aber es hat jetzt ernsthaft den Appetit vertrieben. Die beiden lieferten sich gerade einen wörtlichen Kampf. Kalter Krieg...? Naja, nicht wirklich, aber sie fand es jedenfalls sehr interessant.
Und dann, wieder ganz normal, fragte Enobaria ihre Tributin, ob sie noch etwas wissen wolle. Clove lächelt leicht und antwortet: "In der Tat: wie wir die nächsten Tage überleben sollen, ohne dass sich jemand an die Gurgel geht." Dabei bringt sie ein leises Lachen zustande.

In diesem einen Moment war Clove fast alles egal. Was Enobaria zu ihr sagte, interessierte sie nicht. Was Cato zu Enobaria sagte, interessierte sie nicht. Was die Mentorin dem jungen Mann vorhielt, interessierte sie nicht. Dass sie sterben könnte, ging ihr wortwörtlich am Arsch vorbei. Doch was Cato tat, traf sie bis ins Mark. Wut entflammte in ihr und sie schritt auf ihn zu, nachdem Enobaria mit ihm fertig war, packte ihn am Kragen und drückte den anderen Unterarm gegen seine Kehle. Die Worte sprudelten beinahe unkontrolliert aus ihr heraus, aber sie konnte sie einfach nicht zurück halten.
"Und damit, Cato Grace, machst du mich dir wahrhaftig zur Feindin! Von wegen wahre Liebe, das glaube ich dir nicht! Erst ich und dann sie?" Anklagend deutete sie mit dem Finger auf Enobaria. "Meine Schwester wird nur einen einzigen Menschen zurück bekommen und das.bist.nicht.du! Nichts soll Chleo mir verzeihen, was ich dir in der Arena antue. Ich habe dich gewarnt, solltest du meiner Schwester Unrecht tun, wirst du mich kennen lernen. Und meines Erachtens nach ist dies genau der Fall. Hey, schwören wir jemandem doch mal die große Liebe und schlafen erst mit ihrer Schwester und küssen dann auch noch deren Mentorin. Das.geht.zu.weit. Niemand und zwar absolut niemand verletzt meine Schwester innerlich. Du wirst sie nicht bekommen, um dann doch wieder mit einer anderen rumzumachen. Du Idiot, Cato Grace! Chleo wird einen anderen Mann finden, der sie wirklich liebt und zwar alles an ihr! Der nicht nur auf sie steht, weil sie vielleicht blond ist oder die Schwester von Clove Huntress oder was weiß ich was. Jemand, der nicht nur leere für sie hat. Jemand, der sich nicht an ihre Schwester, also an mich, ran macht. DU wirst ihr nicht weh tun! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so für Chleo einsetze, aber sie bedeutet mir anscheinend mehr, als ich es je annehmen konnte. Ich würde alles für sie tun, Cato, so wie sie mir alles verzeihen würde. Wenn es sein muss, sterbe ich für sie, aber dann wirst du auch sterben. Du wirst sie nie wieder auch nur zu Gesicht bekommen!"
Clove hatte sich ihrem Ärger Luft gemacht und ließ ihn nun beinahe angewidert los. Leise zischte sie: "Du... bist tot." Zitternd sog sie ihre Lungen mit Sauerstoff voll, den sie soeben gehörig verbraucht hat. Noch ein letztes Mal wandte sie sich dem Manne zu, den sie noch vor zwei Stunden einen Freund nannte. "Ich werde es gleich nach der Schlacht beim Füllhorn heraus brüllen, wenn sie zuschaut: Cato Grace ist Chleopatra Huntress nicht würdig." Sie sah ihn beinahe traurig an und warf Enobaria einen bedauernden Blick zu.
"Bitte entschuldige mich oder du hast nur noch einen Tribut, bevor die Spiele überhaupt beginnen." Mit diesen Worten wirbelte sie herum und verließ fluchtartig das Abteil, bevor sie jemand aufhalten konnte. Bevor sie noch etwas in Stücke riss. Zerfetzte. Bis nichts mehr davon übrig war. Rein gar nichts. Und zum ersten Mal wurde ihr vollauf bewusst, wie stark die Liebe zu ihrer Schwester war, die sie miteinander verband.